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“RCE – Remote Code Execution”

Am Samstag abend waren wir im Berliner Ensemble und sahen das Theaterstück “RCE” von Sybille Berg – Thema: Nichts weniger als die Revolution! – davon hatten wir zwar schon einige in der jüngeren Vergangenheit (die amerikanische, die französische, drei bis vier industrielle, die russische, die sexuelle, die chinesische, die grüne, die herbstlichen und die digitale), historisch und weltweit mündeten sie aber bisher alle in dem letzten verbleibenden Erd-Experiment der Menschheit: Die vollständige Durchsetzung des Kapitalismus, sowohl in der äußeren Welt der Natur, als auch in der inneren Welt von uns Menschen. Dieses Experiment ist kein Experiment – so Sybille Berg – sondern eine Exekution. Eine bevorstehende Exekution der Menschheit, geplant und durchgeführt von Mächtigen in Form von Megaunternehmen und Multimilliardären, die die angezettelte Apokalypse notfalls in gebauten Raumschiffen oder auf gekauften Inseln überleben wollen. Soweit, so schlecht und wohl bekannt die Narrative im Netz und unsrer Nachtmahren. Soweit, so schlecht, so wohlbekannt das schwer zu tragende Verzweiflungs-Gewand und der steigende Verzweiflungs-Grad.

Nun aber betreten fünf Hacker:innen die historischen Bretter Brecht’s in Berlin TO END ALL DOOMSCROLLING! Mit einem Bühnenaufbau, der aussieht, als hätte sich das Schleusentor der “Discovery” in “2001: A Space Odyssey” nach jahrzehntelanger Türblockade nun endlich doch noch aus der bereits Vergangenheit gewordenen 200er-Zukunft heraus geöffnet, durchschreiten diese Computer-Nerds die Luftschleuse in die Schaltzentrale der Mächtigen, um deren Exekutions-Plan durch “remote code execution” abzuschalten. Das Neue daran: Auch sie haben – wie die Mächtigen unserer Zeit – einen Plan: Sie wollen eine Revolution starten, die hoffentlich keine Schaffots und Mistgabeln, sondern nur Schaltkreise und Massen-Psychologie der zweiten Bernays-Generation braucht. Als Programmier:innen initiieren sie eine Konstruktor-Routine, die alle bisherigen Klassen mit neuen Methoden überschreiben und neue, polymorphe Instanzen während der Laufzeit erschaffen soll, die dann ein anderes System erzeugen werden als das bisherige. Another code is possible.

Verfremdungseffekt 2.0 im Berliner Ensemble: die Bretter, die nun Code bedeuten.

Dazu kommen den fünf Freunden die Folgen der letzten großen Revolution zu Hilfe, deren körperlich untüchtige, sozial verhuschte und entfremdete, dafür aber geistig umso mehr getunte Kinder sie sind: denn die größte Macht, die die Mächtigen mit der Digitalisierung und ihrer total money, mind & body control nun über uns haben, macht sie auch angreifbar für jene, die wissen, wie sie funktionert. Und wenn durch die Digitale Revolution der Tech-Tycoons die Gesellschaft programmierbar geworden ist, dann kann man sie auch wieder umprogrammieren! Das ist die Hypothese, mit denen unsere fünf Revoluzzer:innen ihren Hack beginnen. Ihr Ziel: die inzwischen vollkommen digitalisierte Gesellschaft so umzuprogrammieren, daß sie der ganzen Welt, dem letzten Experiment, dem totalen Kapitalismus, der drohenden Exekution einen Reboot verpassen können. Dieses Mal aber fürs Gemeinwohl und nicht für die Gewinne.

Der Hack gelingt. Auch zum Erstaunen der fünf Nerds. Denn im letzten Moment der zu lange auf DauerTicToc-getakteten Hysterie-Dramaturgie des Stücks, kommen den Hacker:innen kurz vor dem “Ereignis” kalte Zweifel in letzter Sekunde. Was bisher ihre schöne Überzeugung, kalkulierte Vorbereitung und heimliche Re-Programmierung von Massen und Mitteln war, wird nun mit dem Druck auf die Enter-Taste und der Dynamik der Dinge knallharte Realität. Und mit Realitäten haben sie halt so ihre Probleme, selbst wenn es die selbstgewollten und -gemachten sind, und vor allem wenn diese Realität nun ins Rollen kommen. In diesem delikaten Moment an der Schwelle zur Türschleuse in die echte Welt schenkt die Autorin ihren Heldinnen und Helden Selbstzweifel und Selbstreflektion. Sie halten kurz inne im Auge des sich entfaltenden Sturms: Wollen wir überhaupt das Richtige für die anderen Menschen? Haben wir das Recht, das zu tun? Sind wir überhaupt die Richtigen? Ist es denn nicht wahr, daß doch gerade wir Nerds uns immer schwer taten, die anderen Menschen zu verstehen? Sind wir daher die Richtigen, ihre Probleme zu lösen? Haben wir überhaupt die richtigen Probleme der echten Welt da draußen erkannt? Die fünf Freunde fragen sich, ob ihre eigenen Nerd-Vorstellungen von der Welt und den Menschen, die sie retten wollen, eben doch verschrobene und verschobene Nerd-Weltansichten sind, Vorstellungen fern ab jeglicher Realität, die sie jetzt den anderen zum vermeintlichen Wohle Aller überstülpen wollen. Ist Neuer Code auf alten Servern vielleicht doch dasselbe wie alter Wein in neuen Schläuchen? Würde ihr gut gemeinter Hacker-Angriff auf das alte System nicht einfach eine weitere neue Hölle für die Menschen erschaffen? Oder würde nach dem Knopfdruck gar nichts passieren, und das mühsam viral in die threads eingefädelte “Ereignis” bliebe folgenlos, weil sie die Menschen falsch eingeschätzt haben und niemand mitmachen wird bei ihrer digitalen Kickstarter-Revolution?

Es ist dieser Moment des Innehaltens und Zweifelns in der sonst atemlosen twitch speed-Inszenierung des Stücks, der uns Zuschauer:innen im Publikum versichert, daß – egal, wie der Plan der Hacker:innen ausgehen wird, und selbst wenn sie vielleicht die neuen Mächtigen werden wollen – sie doch zumindest empathisch sind und selbstkritisch. Das macht sie sympathisch, und wir sind lieber ihre Follower als weiter Follower von Megakonzernen und Multimilliardären, die ganz sicher weder empathisch, noch selbstkritisch sind.

Vielleicht ist auch das der Grund, warum das Ganze am Ende gut ausgeht. Weil wir uns alle so sehr wünschen, dass es gut ausgehen wird. Das “Ereignis”, der “Angriff” findet statt, Sympathie und Solidarität gehen letztendlich viral, und nicht wie üblich Hass und Hilflosigkeit. Die Menschen spielen IRL mit, der “Reboot” funktioniert. Zur großen Erleichterung der Hackerbande hat sich ihre Code-Execution in der Wirklichkeit ausgebreitet, ohne dass es – bis auf einen Infarktfall – Todesopfer gegeben hätte. Die Mächtigen wurden betäubt, die Menschen neu bestäubt und haben in der echten Welt nun eine echte Chance auf System Change.

Der Vorhang fällt und alle Schleusen offen.

Doch so erfrischend das Happy End uns Hoffnung gibt, daß wir es doch noch schaffen werden, auch wenn das bürgerliche Theaterpublikum am Ende der Vorstellung im besten Brechtschen Sinne nicht betroffen, sondern mit vielen Fragen offen hoffen darf, so dürfen wir doch – trotz aller Aufbruchs-Euphorie, die verbreitet wird – eins nicht vergessen:

“Dies Alles ist schon einmal geschehen.” (Battlestar Galactica, 2003)

Das letzte Mal, daß ein Computerprogramm die Welt retten sollte, war 1972. Auch die damaligen Nerds hatten Bedenken, daß sie ihre spezielle Sichtweise der Welt aufdrücken, auch bei ihnen ging ihr Code viral als Erweckungsruf um den Globus. Aber ihre system dynamics blieben prophetische Kybernetik und konnten weder die Mächtigen noch die Menschen re-programmieren. Vielleicht auch deshalb, weil unser Leben noch nicht digitalisiert genug gewesen waren. Jetzt sind 52 Jahre vergangen, und startet man ihre Programme von damals mit den zur Verfügung stehenden Daten von heute nochmals, steht am Ende dieser Code Execution als Simulationsergebnis tatsächlich die Exekution der Menschheit (Gaya Herrington, 2022).

Noch verbleiben knapp 6 Jahre, um die Remote Code Execution einzuleiten, bevor sich 2030 die Schleusen für eine zivilisatorische Zukunft schliessen – und um die Maschinen in “Battlestar Galactica” (2013) vollständig zu zitieren: “Dies Alles ist schon einmal geschehen, und dies Alles wird wieder geschehen.”

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By Daniel Schwarz

Professor for interactive Media and Games at the Karlsruhe University of Applied Sciences. Co-founder of takomat GmbH.

One reply on ““RCE – Remote Code Execution””

Ich habe es gesehen, aber war ein bisschen unter-beeindruckt. Die Geschichte platt, die Figuren nicht entwickelt – schlicht das opulente Bühnenbild war ein Schmaus, der alles andere raus gerissen hat. Das Stück selbst ist auf dem Niveau einer dahinplätschernden Nachmittagsproduktion in zdf.neo. Ich habe leider mehr von Frau Berg erwartet. 🤷🏻‍♂️

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