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Dinner for One ´24

Wir schreiben das Jahr 2024, ein großer Geburtstag steht Deutschland bevor. Was schreibt man unserer nun ältesten Staatsdame der Republik – der Grande Dame Demokratie – zum 75. Geburtstag in die Glückwunschkarte? Vielleicht schreibe ich ihr: „Danke, Madame Demokratie, daß Sie mir, daß Sie uns allen, ein ganzes Leben in Frieden, Freiheit, Wohlergehen und auch Wohlstand ermöglicht haben!“ – und drunter vielleicht noch einen persönlichen Wunsch: „P.S.: …und das mit der Balance von Sozialem, Ökologie und Ökonomie werden wir schaffen! Das werden Sie noch erleben, versprochen!“

Berlin, Platz der Republik, 21.01.2024, 16.10 Uhr, Demo gegen Rechts

Vielleicht aber lädt sie uns alle auch zu ihrer Geburtstagsrunde ein, das tut sie eigentlich immer.

Dann würde ich gerne statt der Glückwunschkarte eine kurze Ansprache am Tisch machen. Vielleicht lasse ich dann zur Feier des Tages den Blick historisch werden, da Madame Demokratie – wie es ihre offene und wohlerzogene Art ist – auch Gäste aus der Vergangenheit an ihren Tisch geladen hat. Ich würde nach einer Ehrerbietung an unsere Gastgeberin das Wort direkt an die älteren Herrschaften in der Runde richten. Der historischen Bedeutung des Tags wegen, sollten sie mit einbezogen werden. Doch es ist seltsam, wie jedes Jahr aufs Neue: Diese ehrwürdigen Herrschaften sind zwar weitaus jünger als unsere Gastgeberin, dafür aber schon lange tot. Auf diesen etwas seltsamen Umstand ihrer am Tisch versammelten Nicht-mehr-Existenz kommen diese Herrschaften selbst nicht ganz klar. Vor allem wahrscheinlich deshalb, weil sie sich selbst das Leben genommen haben und ihnen daher nun zwangsläufig jene weise Lebenserfahrung fehlt, die unsere alte Dame heute an ihrem Ehrentag gutmütig ausstrahlt. Vielleicht sind sie deswegen etwas zu lautstark am Tisch und diskutieren „Alternativen“ zur versammelten Runde, in der sie sich offensichtlich fehl am Platz fühlen. Da wäre das „gestandene Mannsbild“ des Deutschen Kaiserreichs, der 47 Jahre alt wurde und dann Suizid beging. Und dann ist da ein zwölfjähriger Rotzlöffel, der kindisch von sich behauptet, „tausendjährig“ zu sein. Er ist der Jüngste am Tisch, auch er hat sich selbst umgebracht. Und zwischen ihnen eingeklemmt sitzt eine blässliche Teenagerin – die „Weimarer Republik“ – die im zarten Alter von 14 Jahren vergewaltigt und ermordet wurde.

Nun könnte man mit diesen Untoten am Tisch versammelt den Geburtstag unserer Grande Dame feiern. Aber der 12-jährige rotzt uns ungezogen in die Suppe und zündelt an der Tischdecke, und der alte Herr stinkt so gewaltig nach Verdun und Verwesung, daß uns schlecht wird. Die Augen der toten Teenagerin dazwischen machen traurig.

Und so stehe ich auf, schlage den Löffel ans Glas, wünsche laut uns Lebenden am Tisch der Demokratie versammelt eine schöne Feier, die anderen mögen doch bitte gehen. Denn wir haben hier ein Dinner for One, und ein One for All.

Berlin, Platz der Republik, 21.01.2024, 17.09 Uhr

Well it’s too late tonight
To drag the past out into the light
We’re one but we’re not the same
We get to carry each other, carry each other
One!

“One”, U2, 1992